Heute ein philosophischer Ansatz basierend auf dem Dialogprinzip von Martin Buber.1
Welche Beziehung besteht zwischen Streetfotograf und dem Motiv?
Was macht diese Beziehung mit mir als Fotograf?
Welcher Dialog entsteht zwischen dem Fotograf und einer Person als Subjekt?
Das Dialogische Prinzip
Es gibt zwei Sichtweisen auf das Motiv eines Streetfotos:
Einmal als Subjekt, d.h. im Sinne von Buber die Beziehung „Ich“ zum „Du“.
Oder die Sichtweise als Objekt, d.h. im Sinne Bubers die Beziehung „Ich“ zum „Es“.
Der Unterschied liegt in der Qualität der Beziehung.
Denn Du ist mehr, als Es weiß. Du tut mehr, und ihm widerfährt mehr, als Es weiß.2
Was bedeutet dies im Kontext der Streetfotografie?
Es ist meine Entscheidung als Fotograf, wie ich mich dem Motiv nähern möchte:
Will ich in Beziehung zu ihm treten, dann betrachte ich es als „Du“.
Die Gestalt, die mir entgegentritt, kann ich nicht erfahren und nicht beschreiben: nur verwirklichen kann ich sie. Und doch schaue ich sie, im Glanze des Gegenüber strahlend, klarer als alle Klarheit der erfahrenen Welt.3
Es ist die Welt des Gegenwärtigen, in der ich zu der zu fotografierenden Person (oder vielleicht auch ein Tier, ein Gegenstand …) in Beziehung trete. Es findet etwas zwischen uns statt, in Form eines stillen Dialoges, der keiner Worte bedarf. Ein Blick, ein Heben des Lids, ein Runzeln der Stirn und mir wird eine Botschaft mitgeteilt. Ein Signal auf das ich als Fotograf in Reaktion gehen kann. Vielleicht durch ein Lächeln oder ein Schulterzucken oder ein paar Worte – wer weiß?
Demgegenüber steht die Interaktion mit anderen in Form des „Es“.
Der ichhaft gewordene Mensch, der Ich-Es sagt, stellt sich vor den Dingen auf, nicht ihnen gegenüber im Strom der Wechselwirkungen; mit der objektivierenden Lupe seines Nahblicks über die einzelnen gebeugt oder mit dem objektivierenden Feldstecher seines Fernblicks sie zur Szenarie zusammenordnend, sie in der Betrachtung isolierend ohne Ausschließlichkeitsgefühl oder die sie in der Betrachtung verknüpfend ohne Weltgefühl – jenes könnte er nur in der Beziehung, dieses nur von ihr aus finden.4
Dies ist die Welt des Objektiven, den Ent-Menschlichten. Personen werden zu Dingen, verborgen hinter dem Sucher – eine andere Welt.
Das Beispiel der ethischen Fragen
Das bisher abstrakt, philosophisch formulierte kann sich der geneigte Leser anhand der ethischen Grenzfälle der Streetfotografie erschließen:
Wie geht der Fotograf um, wenn er einen obdachlosen, hilfsbedürftigen Menschen vor der Linse hat?
Sieht er ihn als Mensch, also in der Beziehung Ich-Du?
Oder distanziert er sich von ihm, in Form der Beziehung Ich-Es?
Ersteres würde eine Interaktion mit der Person voraussetzen. Einen zwischenmenschlichen Kontakt, ein Austausch, womöglich ein Gespräch.
Eine Frage, die in jeder Fotograf für sich selbst entscheidet.
Systemische Interaktion und Rückkopplung
Der Kontakt zwischen Fotograf und Motiv, sei es in Form des Ich-Du oder in Form des Ich-Es, ist systemisch.
Daher ist es ein Geflecht von Feedbackschleifen – Kommunikation entsteht.
Dialog ist Systemik und wie in jeder systemischen Beziehung macht dies auch etwas mit mir als Fotograf.
Um im vorherigen Bild zu bleiben: Lässt es mich als Fotograf kalt, wenn ein anderer Mensch Hilfe benötigt? Oder gehe ich auf ihn zu und biete meine Hilfe an? Oder es lässt mich nicht kalt, aber ich wende mich ab?
Warum fällt meine Entscheidung in die eine oder andere Richtung aus?
Wer sich dieser Frage stellt, kann viel über sich selbst erfahren. Und auch über den Anderen.
Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.5
Fazit
Der Dialog ist Bestandteil der Begegnungen, die ein Fotograf auf der Straße beim Fotografieren begegnet. Er kann sich dieser Naturgewalt nicht entziehen, sondern nur sich selbst positionieren. Diese Entscheidung sagt sehr viel über den Menschen aus, der fotografiert und bietet die Möglichkeit zum Lernen.
Streetfotografie ist daher nichts anderes als das Lernen am Leben.