Laws of Form in der Streetphotography

Nach längerer Zeit wieder ein Artikel. Ich möchte den Blog wiederbeleben und werde zukünftig regelmäßig Artikel schreiben über Philosophisches und Psychologisches beim Fotografieren auf der Straße.

Anfangen werde ich mit einem Artikel über die Anwendung der Laws of Form von George Spencer Brown (1)und der Auswirkungen auf den Akt des Fotografierens, der Nachbearbeitung und des Betrachtens des Fotos.

Draw a distinction

Law 2: Draw a distinction

Wenn wir ein Foto schießen, in dem Moment, kurz bevor wir den Auslöser drücken, was geht uns da durch den Kopf? Denken wir „oh, die Person lächelt“ oder denken wir „prima Szene“ oder denken wir gar nichts?

Auf jeden Fall fassen wir einen Entschluss. Den Entschluss diesen Moment als Standbild in Form eines Fotos einzufangen. Wir treffen eine Entscheidung. Und damit treffen wir auch eine Unterscheidung!

Denn vorher ist es der Ablauf des Lebens in Form eines Flusses. Durchgängig ohne Zäsur und zusammenhängend. 2

Durch den Druck auf den Auslöser will ich aber genau diesen Moment einfangen, ziehe ihn aus dem Lebensfluss heraus und unterscheide ihn dadurch von anderen Momenten.

Was passiert durch diese Unterscheidung?

Zunächst wirkt diese Unterscheidung wie ein Zusammenhalt: Alle Personen und Gegenstände auf dem Foto sind in diesem Foto zusammengefasst und sind für die Dauer der Existenz des Fotos in einer Relation zueinander gefangen. Das Foto bindet die Elemente des Gesehenen, dem Inhalt des Fotos, dieses einen Momentes.

Gleichzeitig schließe ich durch das Foto aus: Alle Geschehnisse, Personen und Gegenstände, die nicht in den Rahmen des Fotos eingefangen wurden, aber in diesem Moment des Lebensflusses anwesend waren, sind nicht Bestandteil des Momentes.

Durch diesen Zusammenhalt des auf dem Foto Gebannten und der Teile, die nicht sichtbar sind, wurde eine Grenze, eine Unterscheidung durch den Rahmen des Fotos getroffen.

Diese Grenze ist physisch, denn das Nichtsichtbare ist nicht physischer Bestandteil des Fotos, als auch temporal, denn der Moment ist eingefangen, das Leben ging aber weiter.

Grenzen überwinden

Bei manchen Unterscheidungen sind Grenzen durchlässig, ermöglichen einen Übergang. Ist dies auch hier möglich?

Die temporale Trennung macht dies schier unmöglich, denn der Moment ist Vergangenheit, unwiederbringlich.

Was passiert aber dann, wenn eine der Personen, die nicht auf dem Foto abgebildet sind, jedoch in dem Lebensmoment zugegen waren, dieses Foto sieht?

„Ach, da war ich ja auch! Schade, dass ich nicht zu sehen bin. Und außerdem war das ganz anders: Die Person rechts hat nämlich gelacht. Das sieht man hier gar nicht.“

So könnte dann ein Kommentar lauten und damit erfolgt eine Art Interaktion im Nachhinein, durch die Betrachtung.

Ansonsten ist die Grenze aber fix, oder?

Ein Blick sei an dieser Stelle der Nachbearbeitung gestattet: In der Nachbearbeitung können wir die Grenzen des Gesehenen und des eingefangenen Momentes durch den Zuschnitt des Fotos eine neue Bedeutung geben.

Die Grenze wird dadurch variabel, aber nicht durchlässig. Es bleibt die Unterscheidung des Abgebildeten von dem Nichtsichtbaren. Lediglich der Akt des Zuschneidens ist ein zweiter Moment des Treffens einer Unterscheidung. Und damit dem Ziehen einer neuen Grenze.

Beobachter

Wo vorher keine Unterscheidung war, ist durch das Drücken des Auslösers eine geworden, wie wir gesehen hatten.

Was ist dann meine Rolle oder Funktion als Fotograf? Bin ich Akteur, bin ich Teil, bin ich Beobachter? Vielleicht alles und doch nichts.

Teil bin ich, denn ich war in dem Lebensmoment anwesend. Teil bin ich aber nicht, denn ich bin nicht auf dem Foto zu sehen.

Akteur bin ich, denn ich habe das Foto geschossen, also die Unterscheidung getroffen. Akteur bin ich aber nicht, denn meine Handlung wurde nicht im Foto dokumentiert, sondern nur durch es.

Beobachter bin ich, denn ich betrachte das Foto, zum Beispiel in der Nachbearbeitung. Beobachter bin ich nicht, denn wenn ich das Foto veröffentliche, sind andere die Beobachter.

Der Begriff des Beobachters spielt in der Auseinandersetzung mit dem Werk George Spencer Browns eine bedeutende Rolle. 3

Auch in diesem Fall des Beispiels mit dem Foto wird deutlich, dass dem Beobachter – sei es der Fotograf selbst, oder eine Dritter – eine wichtige Rolle zukommt.

Das Foto selbst ist belanglos, wenn es sich niemand mehr anschaut. Nur in seiner Betrachtung wird seine Existenz gewahr. Damit wird auch nur in der Betrachtung der mit dem Foto eingefangene Moment von Bedeutung.

Der Beobachter als Dritter war in dem Moment des Lebensflusses vielleicht nicht dabei. Und dadurch gewinnt er eine große Chance: Denn durch seine Betrachtung wird ihm ermöglicht, das Gesehene neu zu interpretieren. Durch diesen Akt der Interpretation bekommt der eingefangene Moment eine neue Bedeutung und wird gegebenenfalls auch in einen anderen Kontext gesetzt.

Der Beobachter erschafft hier durch seine Beobachtung selbst Neues und wird dadurch Teil des Ganzen.

Re-Entry

Später in der Zeitlinie: Ich komme Tage später an den Ort des Fotos zurück. Die Situation ist jetzt eine andere. Neue Personen, neue Gegenstände, neue Abläufe.

Und doch wirkt das gemachte Foto in mir nach. Die Erinnerung an vergangenen Moment ist präsent. Vergleiche zum Hier und Jetzt entstehen und verschmelzen mit der Erinnerung.

Das Foto ist die Dokumentation des Vergangenen, das, was ich sehe, der Augenblick, was wird die Zukunft zeigen, wenn ich wieder an den Ort zurückkehre?

Beim erneuten Betrachten des Fotos wird das Vergangene wieder präsent und damit Bestand des Jetzt.

Zusammenfassung

Wir leben in Systemen.

Wir Fotografen der Straße bewegen uns in diesen Systemen. Ständig.

Durch unsere Fotos erschaffen wir Ausschnitte dieser Systeme und treffen Unterscheidungen.

Diese Unterscheidungen ermöglichen es Dritten, als Beobachtern zu interpretieren und damit Teil des Systems zu werden.

  1. George Spencer Brown, Laws of Form, Bohmeier Verlag, sixth edition 2015.
  2. Ich folge hier der Ansicht Demokrits „panta rhei“ – alles fließt. Eleaten mögen anders denken…
  3. Man nehme zum Beispiel die Werke von Niklas Luhmann, der sich intensiv mit den Laws of Form auseinandergesetzt hat.
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